Die geschenkte Zeit

Während Lisa sich massiv gegen das Muskelentspannungs- und Beruhigungsmittel wehrte, kämpfte ich gegen hysterische Panik. Nach und nach sank Lisa in sich zusammen, und Gabi schickte mich raus. Es war Zeit, Lisas Leben zu retten.

Ich versuchte, mich mit Arbeit von den möglichen Konsequenzen der nächsten Minuten abzulenken: Ich kehrte den Bus ordentlich aus und entsorgte etwa ein Kilo Sand. Dann schüttelte ich alle Hundedecken aus, entfernte mit der Fusselbürste alle Haare und legte für Lisa saubere Decken zurecht. Danach hatte ich nichts mehr zu tun. Nur noch warten. Edda spürte meine Beunruhigung und stupste mich immer wieder mit der Nase an. Ich weiß nicht, ob sie verstand, was los war.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, die trotzdem zu kurz war, verließ Gabi die Praxis und rief mich. Lisa war dabei, aufzuwachen. Ich sollte ein Laken mitbringen, damit wir sie in den Bus tragen konnten. Meine Erleichterung war unbeschreiblich! Ich griff nach einem glücklicherweise vorhandenen Laken und rannte förmlich ins Haus, um bei Lisa sein zu können, wenn sie wach wurde. Wir breiteten das Laken aus und legten Lisa drauf. Dann trugen wir sie in den Bus und legten sie auf ihren Platz zwischen den beiden Vordersitzen. Langsam kam sie zu sich und sah sich desorientiert um.

Ich mußte Lisa warmhalten nach der OP, und so deckte ich sie mit einer Fleecedecke zu und baute  gegen Abend eine Höhle aus Sitzauflagen und Wolldecken für sie. Dann warf ich meinen Kamin an, der bald eine angenehme Wärme verbreitete. Bereits am späten Nachmittag wollte Lisa raus und striezen, und ich trug sie aus dem Bus, stützte sie beim Gehen und trug sie auch wieder hinein. Ich glaube, das gab meinem bereits schmerzenden Rücken den Rest, und so verbrachte ich die Nacht und den nächsten Tag mit Wärmflasche im Rücken. Ich war bei der Praxis stehengeblieben und wollte eventuell am nächsten Nachmittag, nach Lisas Antibiotiumspritze, einen Kilometer weit fahren, um an den Klippen zu stehen. Ich hoffte auch, daß dort ein Lüftchen wehte, das die Mücken vertrieb, denn hier hatte ich die Nacht damit verbracht, Mücken zu jagen. Sobald ich eine gekillt hatte, tauchte die nächste auf. Ich wurde irre dabei.

Bereits am nächsten Morgen fraß Lisa mit gutem Appetit! Mir fiel ein Stein vom Herzen! Natürlich konnte es noch Komplikationen geben, aber das war eher unwahrscheinlich. Mein supersüße allerliebste Lisa hatte es geschafft! Uns war noch Zeit geschenkt worden, die wir miteinander verbringen konnten! 

Am nächsten Tag lernte ich Joop kennen, der ursprünglich aus Holland kommt und die Haushälfte neben Gabis Praxis gemietet hat. Zu ihm gehörte auch der eingezäunte Garten, und bald tobte Edda mit seiner Hündin herum, während Joop und ich Kaffee auf seinem Balkon tranken. Er gab mir einen leckeren Salat aus seinem Garten, einen Kohlrabi aus eigener Ernte und sogar Mandarinen von seinem Baum! Wir unterhielten uns auf englisch, und das klappte bei mir inzwischen ganz gut. Ich hatte viel englisch gesprochen in den letzten Wochen, und sogar, wenn ich mit einem der vielen Schweden sprach, die hier an der Küste unterwegs waren, fiel ich oft ins englische...

Gabi hat es nie ausgesprochen, aber die Tierarzthelferin hat eine Andeutung dahingehend fallen lassen, daß keiner von ihnen damit gerechnet hatte, daß Lisa anfangen würde, zu fressen. Ich bekam das Ok, mit Lisa einen Kilometer weit zu fahren.

Der Stellplatz war sehr angenehm, es war mild, und das Biogemüse von Joop schmeckte. Auch die Nacht war entspannend: Ich hörte das Meer, schlief gut, brauchte keine Mücken jagen, und war guter Dinge, weil es Lisa, die sich in ihre richtige Schlafhöhle zurückgezogen hatte, gut ging.

Es war mal wieder kräftiger Sturm angesagt, und ich fuhr an einen von Joop empfohlenen Strand, bei dem der kleine Parkplatz von einer großen Klippe geschützt wurde. Es regnete und windete, und so machte ich ein kleines Nachmittagsschläfchen. Ich wurde gerade wieder wach, als es laut grollte und bebte. Ich war noch zu schläfrig, um mir Gedanken darüber zu machen. Am Abend jedoch, kurz nach acht etwa, grollte es wieder. Erst leise, dann wurde es immer lauter. Der Bus bebte. Der Boden bebte. Dann verklangen Geräusche und Beben. Entsetzt stellte ich fest, daß es sich genauso angehört und angefühlt hatte, als Anfang September Erdbeben in Schweden gewesen war. Sollte das hier ebenfalls ein Erdbeben gewesen sein? Am Meer? Tsunami! Aber moment mal, wie wahrscheinlich war es denn, innerhalb von vier Monaten Zeuge zweier Erdbeben zu sein? Mein Busnachbar stand schon länger hier, vielleicht wußte der irgendetwas.

Es waren Deutsche, und sie hatten nichts gespürt. Beziehungsweise, sie hatten es gehört und gespürt, hatten es aber für meine Schiebetür gehalten. Oder für einen vorbeifahrenden LKW. Da ich meine Tür nicht geöffnet hatte und weit und breit keine Straße war, auf der ein LKW dermaßen Lärm und Gebebe veranstalten konnte, half mir das auch nicht weiter.

Die beiden luden mich auf ein Plauderstündchen ein, falls ich am Strand bleiben würde. Ich überlegte. Wegfahren? Wie real war eine Tsunamigefahr? Ich entschied mich, zu bleiben. Ich zog Lisa ein T- Shirt an, damit sie nicht an ihre Wunde ging, machte alles eddafest, und begab mich dann mit meinem Bier in den Nachbarbus.

Das Bier schmeckte, die Gesellschaft war nett, und so blieb ich erheblich länger als die Viertelstunde, die ich eigentlich eingeplant hatte. Gegen halb elf nahm ich mir Lisa und Edda und ging mit ihnen nochmal in den Regen hinaus. Da grollte und bebte es schon wieder! Aber erheblich leiser und schwächer. Sollte es sich vielleicht doch um Erdbeben handeln? Ich schob meine Unruhe beiseite und blieb am Strand stehen. Die große Klippe schützte uns gut, dennoch wurde der Bus hin und wieder durch den Wind durchgeschüttelt, und ich stellte auch fest, daß das Handtuch, das ich sicherheitshalber wieder zwischen Decke und Schrank geklemmt hatte, wieder naß war. Das durfte doch nicht wahr sein!

Das erste, was mich die Tierarzthelferin am nächsten Tag fragte, war, ob ich denn was von dem Erdbeben mitbekommen hatte, das ganz in der Nähe stattgefunden hatte. Ungläubig sah ich sie an und bestätigte. Ja, ich hatte sogar Vor- und Nachbeben gespürt...

Edda tobte im Garten herum und fand natürlich einen Weg hinaus, klar. Joop und ich plauderten. Ich erzählte ihm, daß es immer noch in den Bus regnete. Er runzelte die Stirn und sagte, er würde mal auf das Busdach schauen. Leider hatte er nur eine kleine Stehleiter, und als er einen Holzklotz auf der Leiter plazierte und mit seinen Gartenschlappen darauf kletterte, protestierte ich. Seine Reaktion: Ich sollte ruhig sein und einfach die Leiter festhalten.

Himmel, ein unvernünftiger Mann! Ich hielt die Leiter, klar, und er begutachtete die Nähte. Fast umgehend fand er die undichte Stelle: Die Dose, bei der ich nicht richtig hatte arbeiten können. 

Inzwischen waren Lyggi und Meli angekommen, deren wunderschöne weiße Schäferhündin kastriert werden sollte. Über sie war ein portugiesischer Streuner drübergehüpft, was Folgen gehabt hatte... die beiden jedenfalls hatten eine zusammenklappbare Leiter dabei, die sie an meinen Bus stellten, so daß Joop vernünftig arbeiten konnte. Mich wollte er das nicht machen lassen, diesmal sollte die Dose dicht werden... Ich freute mich dermaßen über meinen nun hoffentlich dichten Bus, daß ich ihm zwei Kilo meiner eigenen Kartoffelernte schenkte, die ich mit dabei hatte. 

Momentan schien die Sonne, aber das sollte sich noch im laufe des Tages ändern. Regen war angesagt, und Sturm, Sturm, Sturm. Lisa war fit, und ich zog in Erwägung, bereits an diesem Tag loszufahren. Ich hatte noch einen Zahnarzttermin, und dann wartete zuhause ja auch Arbeit auf mich. Gabi hatte keine Einwände dagegen, daß ich heute bereits aufbrach. Wir verabschiedeten uns, und während sie sich mit Luna, der weißen Schäferhündin, beschäftigte, tranken Joop und ich einen Kaffee im Garten und sahen unseren Hunden dabei zu, wie sie umherstreunten. Irgendwie hatte ich gar keine Lust, wegzufahren, und Joop meinte, daß es sicherlich auch in Portugal genug Arbeit für mich gäbe, vorausgesetzt, ich würde portugiesisch lernen. Damit begonnen hatte ich ja früher schon einmal, und ich hatte auch vor einigen Jahren in Erwägung gezogen, nach Portugal zu ziehen, aber irgendwie bin ich doch in Schweden zuhause. Wenn ich Teile des Winters in Portugal verbringen könnte, wäre das allerdings richtig schön!

Gabi kam aus dem Haus und sprach Joop auf deutsch an. Und er antwortete auf deutsch! Perplex sah ich erst ihn und dann Gabi an. Da hatte er mich doch tatsächlich drei Tage lang an der Nase herumgeführt! Was er mir nämlich verschwiegen hatte: Die sechs Jahre vor seinem Umzug nach Portugal hatte Joop in Deutschland gelebt und auch eine deutsche Freundin gehabt! Zur Strafe redete ich die restlichen Minuten nur noch deutsch mit ihm. Dann verabschiedeten wir uns, und ich brach auf.

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